Samstag, 17. Januar 2015

Fliegende Phalli

Alle Jahre kommt es wieder, das Verlangen, in den "Tatort" der 70er und 80er Jahre abzutauchen, und damit in deutsche Landschaften - natürlich auch: Film-, Wohn- und Seelenlandschaften - die in dieser Form weder in deutschen Kinofilmen dieser Zeit, noch in Dokumentarfilmen über diese Zeit zu finden sind. Kulturgeschichtlich ist das ebenso unaufhörlich aufregend und unverzichtbar wie die Lehrfilme des FWU, der neue deutsche Film, LISA-Komödien oder natürlich die Helmut-Ringelmann-Serien - jedoch nicht vergleichbar bewundert und gepflegt, da spröder und unglamouröser. Zuverlässiges Ultrakunst-Depot: Die ernsten, melancholischen und manchmal sehr gespenstischen, von stummen existenzialistischen Abgründen gesäumten Ruhrpott-Tatorte um Kommissar Haferkamp (Hansjörg Felmy), zwischen 1974 und 1980 unter anderem von Ultrakunst-Regisseuren wie Wolfgang Becker und Wolfgang Staudte gedreht. Geheimer Star dieser Filme ist der unfassbare Drehbuchautor Karl-Heinz Willschrei, der realistische und doch bisweilen schwindelerregend labyrinthische oder bizarre Plots (man denke an den teils beinahe sakral anmutenden und dabei doch ziemlich ruppigen Gangsterfilm ZWEI LEBEN, 1976) so nüchtern ausbreitete, dass sich die Filmemacher daran später umso heftiger betrinken konnten. In diesen Filmen steckt, mehr noch etwa als in den ermittlungs- und humorübersatten Schimanski-Filmen, ein urdeutsches und voll funktionstüchtiges, glaubwürdiges Genre-Franchise - nicht ohne Grund sind sie selbst heute noch bekannt, heute, da der Tatort längst aufgehört hat, sich als Genrefilm zu verstehen und sich für seine Möglichkeiten zu interessieren. Selbst etwas weniger illustre Filme wie ZWEIKAMPF (1974) überraschen mit merkwürdigen Konstellationen, wie dem titelgebenden Zickenkrieg zwischen Haferkamp und dem sich unüberführbar und daher hemmungslos überlegen fühlenden Täter, dessen unprätentiöse Variante von Großspurigkeit man sich im chargenseligen und stets wahlweise schlechtgelaunten oder infantilen heutigen deutschen Fernsehkrimi überhaupt nicht mehr vorstellen kann (eher vielleicht bei COLUMBO). Willschrei vertraut der Figur so sehr, dass er ihr, in einem komisch trübsinnigen Schlagabtausch mit Haferkamp in einer Bar am Flughafen - die beiden Herren Ende 40 kontemplieren bei mehreren Schnapsrunden missmutig das Erschlaffen des Sexuallebens und schwindende Aufrissmöglichkeiten im "mittleren Alter" - einen echten Günter-Schütter-Oneliner in den Mund legt: "Diese Penisse, die da in den Himmel gleiten, machen einen ganz schön sehnsüchtig."




Sehnsüchtig wird man auch nach Regisseuren wie Wolfgang Becker, die solche Sätze - so sie denn noch geschrieben würden für Filme dieses Formats - erst auf das Insert eines abhebenden Flugzeugs folgen lassen, statt umgekehrt. Und der weiß, dass man sich zwischen all den handlungstreibenden Dialogen auch mal gehen lassen muss, um einen Spalt in einen Film zu reißen, aus dem all das emporsteigen kann, was nicht im Drehbuch steht.









Im Juni 2011 fuhr ich während des Filmfest München von Ottobrunn zum Isartor. Am Rosenheimer Platz - ich stand bereits an der Tür - wurde ich plötzlich von zwei augen- und ohrenkundig proletarischen Männern mittleren Alters zur Seite gedrängt. Ich hatte noch bemerkt, wie die beiden weiter hinten im Waggon versuchten, mit zwei Mädchen ein Gespräch anzufangen. "In unserem Alter... da geht nichts mehr!" schnaubte einer der beiden indigniert-aufgebracht und rauschte durch die Tür davon, die sich zischend öffnete.


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